Prof. Dr. Christian Rohrer

Prof. Dr. Christian Rohrer 1938-2022 — ein Nachruf

Der Gründer des IMS verstarb 2022 im Alter von 84 Jahren. Wir blicken dankbar auf die Zeit mit ihm zurück.

Das Institut für Maschinelle Sprachverarbeitung der Universität Stuttgart gedenkt seines Gründers

Prof. Dr. Christian Rohrer,

der am 29. Juli 2022 im Alter von 84 Jahren in Meersburg verstorben ist. Die computerlinguistische Forschungsgemeinde verliert einen ihrer größten Pioniere. Ohne sein visionäres strategisches Handeln über viele Jahrzehnte hätte sich die vielfältig vernetzte und von einem kooperativen Miteinander geprägte Forschungslandschaft zwischen Sprachwissenschaften und Informatik sicherlich nicht in gleicher Weise entfaltet.

Christian Rohrer, Jahrgang 1938, studierte Anfang der 1960er in Genf, Tübingen und Paris Romanistik und wurde 1965 in Tübingen mit seiner Dissertation „Die Wortzusammensetzung im modernen Französisch“ promoviert. Ein PostDoc-Aufenthalt führte ihn 1965-1966 an die University of Texas at Austin, anschließend habilitierte sich Rohrer in Tübingen mit der Schrift „Funktionelle Sprachwissenschaft und transformationelle Grammatik“ (erschienen 1971).

Bereits mit Anfang 30 wurde er 1969 zum ordentlichen Professor am Institut für Linguistik/Romanistik der Universität Stuttgart berufen. Früh erkannte er das Potenzial, das im Einsatz von präzise gefassten Formalismen und komputationell implementierbaren Algorithmen für eine empirisch validierbare Modellierung grammatischer Kompetenz und insbesondere der Fähigkeit zur Bedeutungskonstruktion lag. So war er schon 1971, kurz nach seiner Ernennung in Stuttgart, mit der Einwerbung eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekt zur formalen Semantik erfolgreich, das auf hochaktuelle Fragen der internationalen Forschung abzielte und drei Projektstellen umfasste — was zum damaligen Zeitpunkt in der deutschen Forschungslandschaft einmalig war.

Rohrers eigene Beiträge zur formalen Semantik des Französischen und Deutschen und ihrer komputationellen Umsetzung, sowie seine Forschungen zur maschinellen Übersetzung führten 1986 zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass er sich als Leiter eines philologischen Instituts bei einer externen Bewerbung um einen Lehrstuhl für Computerlinguistik durchsetzen konnte. Im Zuge der Bleibeverhandlungen, die sich daraus ergaben, gelang es Rohrer, an der Universität Stuttgart die Einrichtung eines Instituts für Maschinelle Sprachverarbeitung zu erwirken, das neben seinem eigenen Lehrstuhl einen Lehrstuhl für Formale Logik und einen für Experimentelle Phonetik umfasste (später kam zusätzlich ein Lehrstuhl für Theoretische Computerlinguistik hinzu). Diesem Institut, dem „IMS“, blieb Rohrer bis zu seiner Emeritierung 2006 und weit darüber hinaus treu, wobei er die Entwicklung der Forschungslandschaft zwischen Sprachwissenschaft, Computerlinguistik und Informatik im Rahmen von standort- und disziplinenübergreifenden Verbundprojekten und internationalen Kooperationen weiterhin mit gestaltete.

Besonders zu erwähnen ist der Sonderforschungsbereich 340 „Sprachtheoretische Grundlagen für die Computerlinguistik“, ein standortübergreifender Verbund aus Stuttgarter und Tübinger Instituten, dem Rohrer über die Gesamtlaufzeit von zwölf Jahren 1989-2000 als Sprecher vorstand, und das internationale Parallel Grammar Development Projekt ParGram, das sich seit 1994 sprachübergreifend der Implementierung von Grammatiken mit breiter Abdeckung im Formalismus der Lexikalisch-Funktionalen Grammatik (LFG) widmet. Das ParGram-Gründungskonsortium (zu dem sich bald viele Standorte für weitere Sprachen gesellten) bestand aus dem Xerox Palo Alto Research Center, dem Xerox Research Center Europe in Grenoble und Rohrers Gruppe am IMS, jeweils für eine englische, französische und deutsche LFG-Grammatik.

Weit über die spezifischen wissenschaftlichen und strukturellen Errungenschaften hinausgehend prägte Rohrer mehrere Generationen von Linguistinnen, Linguisten, Computerlinguistinnen und Computerlinguisten in ihrem wissenschaftlichen Selbstverständnis. Ein Grundelement lag dabei in der Einsicht, dass mit der zunehmenden Spezialisierung der wissenschaftlichen Teildisziplinen, die sich zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausgeprägt hatte, Fortschritte in unserem Verständnis der untereinander stark verwobenen kognitiven Fähigkeiten, die etwa für das menschliche Sprachvermögen verantwortlich sind, am besten in einem disziplinenübergreifenden Miteinander erlangt werden können. Hierzu gehört ein wertschätzender Dialog, der unterschiedliche methodologische Traditionen anerkennt, ebenso wie eine sorgsame Abstimmung von Schnittstellen-Repräsentationen und der Austausch von Ressourcen wie annotierten Korpora und Analysewerkzeugen. Das Konzept, das Rohrer für das IMS erdacht hatte und das durch die Umsetzung in Forschung und Lehre Generationen von Computerlinguistinnen und Computerlinguisten formte, setzt angesichts der Vielschichtigkeit des Untersuchungsgegenstands Sprache auf einen Pluralismus von methodischen Zugängen und legt nahe, wo immer möglich die Expertise von unterschiedlichen Teildisziplinen zusammenzuführen. Jede und jeder, die Rohrer kannten, wissen, dass er wie kaum ein anderer die für ein solches Vorgehen notwendige Offenheit für ein Aufeinanderzugehen verkörperte — gepaart mit einer unwahrscheinlichen Begeisterungsfähigkeit für das Knacken von linguistischen und computerlinguistischen Herausforderungen. Ein Denken, das nicht den eigenen Zugang zu einer Problemstellung verabsolutiert, ist letztlich entscheidend für den Übergang von einer Ansammlung wohlverstandener Lösungen für isolierte Teilprobleme zu einem umfassenderen Modell menschlicher Sprachkompetenz und -verarbeitung, in dem auch gerade das Zusammenspiel der Lösungsansätze empirisch überprüft werden kann, wie es Rohrer stets am Herzen lag. Ideale Testfälle für die Integration waren oft Satzkonstruktionen, wie sie einem im realen Sprachgebrauch über den Weg liefen. Wie oft berief Rohrer kurzfristig eine Besprechung im Projektteam ein (per Anruf im Büro), weil ein Satz aus der Romanlektüre oder aus der Tageszeitung, den er eben kurz durch die LFG-Grammatik geschickt hatte, zu überraschenden Interaktionen zwischen den Analysen für unterschiedliche Teilphänomenen führte! (Zu Diskussionen dieser Art war er selbstverständlich auch noch aufgelegt, wenn er als Emeritus nach wie vor regelmäßig mit dem Fahrrad ans IMS kam.)

Zum Erfolgsrezept gehörte sicherlich auch, dass für Rohrer das erwähnte Aufeinanderzugehen stets auf Augenhöhe stattfand — aus der Überzeugung heraus, dass jeder Austausch ein Geben und Nehmen ist. Die einen im Team konnten schnell etwas zur Komplexitätsklasse eines Analysealgorithmus sagen, während andere die Subtilitäten des Zusammenspiels zweier linguistischer Phänomene überblickten und schnell eine geeignete Paraphrase zum Eingrenzen der Ursachen für einen Vorhersagefehler konstruieren konnten. Zudem war für Rohrer beim Dialog selbstverständlich, dass die Statushierarchie keine Rolle spielte, sondern allein das wissenschaftliche Interesse am Gegenstand. Das Wort der Studierenden wurde gleichermaßen angehört wie das einer etablierten Autorität. Ein respektvoller Umgang unabhängig von Hierarchien war hochgradig prägend für die Atmosphäre, wie sie sich in der IMS-Forschung und -Lehre etablierte — zumal die anderen Professoren dieses Selbstverständnis teilten.

Im gleichen Zusammenhang war für Rohrer auch die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, u.a. durch Übertragung von Kompetenzen für ein eigenständiges Vorgehen (wie sie aktuell wieder in der Wissenschaftsförderung angemahnt wird) über all die Jahre eine Selbstverständlichkeit, und sie trug sicherlich dazu bei, dass eine beachtliche Zahl von IMS-Studierenden, -Promovierenden und -PostDocs in ihrer späteren Entwicklung verantwortliche Positionen in der akademischen und nichtakademischen Welt in Deutschland und im Ausland erlangten.

Und der respektvolle Umgang endete nicht beim Aushandeln von wissenschaftlichen Inhalten. Rohrer fand etwa auch im Austausch mit der Verwaltung stets den richtigen, wertschätzenden Ton — ein Aspekt, der für das Funktionieren eines mittelgroßen Instituts mit vielen internationalen Verbindungen nicht zu unterschätzen ist.

Das IMS und die linguistische und computerlinguistische Forschungsgemeinde verdanken Herrn Rohrer unschätzbar viel. Aufgrund seiner Krankheit war es ihm bereits in den letzten Jahren leider nicht mehr vergönnt, einen intensiveren wissenschaftlichen Austausch zu pflegen. Nun führt uns die Nachricht von seinem Tod die Unwiederbringlichkeit von begeisterten Diskussionen mit ihm zur Sprachverarbeitung vor Augen und erfüllt uns mit Trauer, gleichzeitig jedoch mit tiefer Dankbarkeit für all das, was er in einem erfüllten Forscherleben für sich und die Forschungsgemeinde erreicht hat.

(Dieser Nachruf wurde von Jonas Kuhn im Namen des IMS verfasst.)

 

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